Valencia: Zwischen Zukunft und Tradition


von Oliver Heinrich
Europa | Regionen | Reiseberichte | Spanien
29. Oktober 2025
29.
Oktober 2025

Das Abendlicht taucht die weißen Kuppeln in goldenes Orange. Wie riesige Meeresmuscheln erheben sich die futuristischen Bauten vor uns, gespiegelt in den langen Wasserbecken. Ich stehe im ehemaligen Flussbett des Turia und kann kaum glauben, dass diese Architektur real ist. Die Stadt der Künste und Wissenschaften wirkt, als wäre ein Raumschiff in Valencia gelandet.

Modernes Gebäude, von unten fotografiert, mit geschwungenen architektonischen Linien und einem spitzen Dach vor einem blauen Himmel mit Wolkenfetzen.

Wenn Architektur atemberaubt

Der Wissenschafts- und Kulturkomplex, entworfen vom valencianischen Architekten Santiago Calatrava, zählt zu den größten seiner Art in Europa. Doch keine Beschreibung hätte mich auf diesen Moment vorbereitet. Das L’Hemisfèric, ein gigantisches Auge, das sich in seinem Wasserspiegel verdoppelt. Daneben das skelettartige Wissenschaftsmuseum Príncipe Felipe, dessen weiße Rippen gen Himmel streben.

Moderne architektonische Strukturen mit kantigen weißen Balken und einem großen Kuppelbau neben einem Wasserbecken, fotografiert in der Abenddämmerung.

Wir schlendern langsam durch den Komplex, während die Sonne tiefer sinkt. Touristen werden zu Silhouetten, Kinder rennen lachend über die Brücken. Die Dimensionen sind überwältigend – der Komplex erstreckt sich über zwei Kilometer entlang des ehemaligen Flussbetts. Hier verschmilzt Valencias kühne Vision mit mediterraner Leichtigkeit.

Am ersten Abend lassen wir den Tag genau hier ausklingen. Auf einer der Terrassen trinken wir Agua de Valencia – den berühmten Cocktail der Stadt. Die Mischung aus frisch gepresstem Orangensaft, Cava, Wodka und Gin schmeckt nach Sommer und Leichtigkeit. Trotz des Namens hat das „Wasser aus Valencia“ nichts mit Wasser zu tun, sondern ist erfrischend prickelnd und gefährlich trinkbar. Während die Beleuchtung anspringt und die Gebäude zu leuchten beginnen, verstehen wir, warum dieser Drink Kultstatus hat. Es fühlt sich an wie der Beginn einer Zeitreise.

In den engen Gassen der Altstadt

Der Kontrast könnte nicht größer sein. Am nächsten Morgen tauchen wir in die Altstadt ein, wo die Geschichte aus jedem Stein spricht. Wir beginnen bei den Torres de Serranos, dem mittelalterlichen Stadttor am nördlichen Rand der Altstadt. Die beiden Türme wurden zwischen 1392 und 1398 als eines der Haupttore der mittelalterlichen Stadtmauer errichtet. Für zwei Euro können wir hinaufsteigen – und tun es auch.

Großes mittelalterliches Steintor mit zwei zylindrischen Türmen und Zinnen, umgeben von städtischen Gebäuden und ein paar Autos und Fußgängern, unter einem klaren blauen Himmel.

Über mehrere Etagen gelangen wir nach oben, und dann: dieser Blick! Von hier oben sehen wir über die gesamte Altstadt, über das ehemalige Flussbett des Turia, das heute ein grüner Park ist. Die Dächer Valencias liegen uns zu Füßen, irgendwo dort drüben müssen die futuristischen Kuppeln sein, die wir gestern besucht haben. Hier auf den Türmen spürt man, wie die Stadt zwischen Vergangenheit und Gegenwart atmet.

Vom Stadttor aus schlendern wir durch enge Gassen zur Kathedrale. Das Bauwerk vereint verschiedene Architekturstile – vom gotischen Portal bis zum barocken Haupteingang. Viele kommen wegen des legendären Heiligen Kelchs hierher – wir aber steigen lieber die 200 Stufen des Miguelete-Turms hinauf, zur schönsten Aussicht der Altstadt.

Blick auf die Kathedrale von Valencia und den Miguelete-Turm auf einem historischen Stadtplatz, umgeben von Wohngebäuden unter einem klaren blauen Himmel.

Über das enge, steinerne Treppenhaus geht es spiralförmig nach oben, Stufe um Stufe, bis wir schließlich ins gleißende Licht hinaustreten. Von hier oben öffnet sich ein überwältigender Blick über Valencia: Dächer, Kuppeln, Kirchtürme – und in der Ferne das Grünband des Turia-Parks, wo einst der Fluss floss. Ein leichter Wind weht, Möwen kreisen über der Stadt, und für einen Moment scheint Valencia stillzustehen.

Beim Abstieg zieht uns dann doch die Kathedrale selbst in ihren Bann. In einer Seitenkapelle wird der Santo Cáliz aufbewahrt – der Heilige Kelch, der traditionell mit dem Gefäß identifiziert wird, das Jesus beim letzten Abendmahl benutzt haben soll. Archäologische und kunsthistorische Untersuchungen, etwa die Doktorarbeit von Ana Mafé García (2019), deuten an, dass die Agaten-Schale des Kelchs tatsächlich aus dem Nahen Osten stammen und in die Zeit des Zweiten Tempels fallen könnte, also ins 1. Jahrhundert n. Chr. Gleichzeitig zeigen neuere Studien, wie jene des Gabriel Songel, dass viele verzierende Elemente erst Jahrhunderte später hinzugefügt wurden, etwa im 12. Jahrhundert, und dass manche Ornamente keltische Einflüsse tragen.

Doch klar ist auch: Es gibt keinen wissenschaftlichen Konsens, der bestätigen würde, dass dieser Kelch tatsächlich der „echte“ Kelch des Letzten Abendmahls ist. Die vielzitierte „99,9-Prozent-Behauptung“ stammt aus einer Einzelmeinung – respektabel, provokant, aber eben nicht unumstritten. Wir betrachten den unscheinbaren Achatkelch hinter Glas. Echt oder nicht – die Aura des Ortes bleibt spürbar.

Weiter geht es zur Lonja de la Seda, die Seidenbörse, die im Herzen der Stadt liegt, gegenüber dem Zentralmarkt – und beide Orte sind Welten für sich.

Die gotischen Säulen der Seidenbörse ragen wie steinerne Palmen in die Höhe. Das Gebäude aus dem 15. Jahrhundert ist die einzige UNESCO-Weltkulturerbestätte der Stadt, und man spürt sofort, warum. Hier wurde einst mit kostbarer Seide gehandelt, hier pulsierte der Reichtum Valencias. Die gedrehten Säulen im Hauptsaal erinnern an einen versteinerten Wald – kühl, erhaben, zeitlos.

Nur wenige Schritte weiter schlägt uns im Mercat Central das pralle Leben entgegen. Berge von Orangen leuchten neben silberglänzenden Fischen. Händler rufen ihre Waren aus, der Duft von Jamón und frischen Kräutern mischt sich mit dem Geruch des Meeres. Dies ist das Valencia, das man schmecken kann.

Luigi und die Geheimnisse der Albufera

Am dritten Tag verlassen wir die Stadt. Die Fahrt durch endlose Reisfelder erinnert uns daran, warum Valencia die Heimat der Paella ist. Die Albufera ist Spaniens größter Süßwassersee – ein stilles Naturparadies, nur wenige Kilometer vom Trubel der Stadt entfernt.

Am Bootssteg im Dorf El Palmar wartet Luis auf uns. Ein wettergegerbter Mann mit verschmitztem Lächeln. Als das italienische Paar fragt, ob sie ihn fotografieren dürfen, wechselt er mühelos ins Italienische: „Certo, ma chiamatemi Luigi!“ – „Klar, aber nennt mich Luigi!“ Das Augenzwinkern dabei ist unverkennbar. Luis ist eben die spanische Version von Luigi, und unser Guide genießt es sichtlich, seinen italienischen Gästen diesen kleinen sprachlichen Brückenschlag anzubieten. Sein Humor begleitet uns durch die gesamte Tour.

Ein Mann mit Strohhut und beigem Hemd sitzt auf einem Boot, mit Wasser und fernen Bergen im Hintergrund.

Das schmale Boot gleitet fast lautlos durch das Schilf. Luis – oder Luigi – erzählt von der Geschichte des Sees, von den Reisfeldern, die Valencia berühmt gemacht haben, von den über 300 Vogelarten, die hier leben. Besonders Wasservögel wie Flamingos nutzen die Albufera als Winterquartier. Seine Hände malen Bilder in die Luft, während er spricht. Die Verbundenheit zu diesem Ort ist in jedem Wort spürbar.

Das Wasser glitzert im Nachmittagslicht. Reiher staksen durch die flachen Uferzonen. Die Stille ist so vollkommen, dass man das Schilf im Wind rauschen hört. Dies ist Valencias andere Seite – nicht spektakulär wie die Stadt der Künste, aber ebenso fesselnd.

Paella, aber bitte ohne Hase

Nach der Bootstour verabschieden wir uns von Luigi und suchen uns eines der traditionellen Restaurants am Ufer von El Palmar. Die Paella wird hier noch über Orangenholz gekocht, verspricht die Karte. Der Reis stammt von den Feldern, an denen wir gerade vorbeigefahren sind.

Die Karte bietet auch Paella mit Kaninchen oder Hase – die ursprüngliche valencianische Variante. Wir sind neugierig und fragen nach. Der Kellner nickt: „Sí, aber dann müssen Sie eine Stunde warten.“ Eine Stunde? Für Paella? Normalerweise dauert die Zubereitung etwa etwa 20 Minuten. Uns beschleicht ein ungutes Gefühl. Wird das Tier vielleicht extra für uns geschlachtet? Wir wissen es nicht genau, wollen es auch gar nicht so genau wissen.

Eine Pfanne mit Gemüsepaella mit Reis, Zucchini, Brokkoli, roter Paprika, Spargel und einem Löffel, der auf dem Rand liegt.

Wir entscheiden uns für eine vergetarische Variante. Als die riesige Pfanne auf den Tisch kommt, verstehen wir, warum Valencia für dieses Gericht berühmt ist. Der Reis hat genau die richtige Konsistenz, leicht kross am Rand – der „Socarrat“, wie die Einheimischen sagen. Jedes Korn ist durchtränkt von den Aromen des Holzfeuers, der Safranfäden, des Meeres.

Wir essen langsam, während die Sonne über der Albufera untergeht und den Himmel in Pink und Orange taucht. Das Wasser wird zu einem Spiegel des Himmels. Fischer kehren in ihren schmalen Booten zurück. Dies ist der Moment, den man auf keinem Foto einfangen kann – diese Mischung aus Geschmack, Licht und vollkommenem Frieden.

Valencia bleibt

Auf der Rückfahrt nach Valencia denke ich an die Kontraste dieser Stadt. An die Zukunftsarchitektur und die mittelalterlichen Gassen. An die Hektik des Marktes und die Stille des Sees. An Luis‘ italienischen Akzent und den Geschmack der echten Paella.

Blick aus einem Boot auf einer schmalen Wasserstraße, mit hohem Schilf auf beiden Seiten unter blauem Himmel. Im Vordergrund sind der Bug und das Seil des Bootes zu sehen.

Valencia hat verstanden, was viele Städte vergessen: dass man die Zukunft bauen kann, ohne die Vergangenheit zu vergessen. Dass Innovation und Tradition keine Gegensätze sein müssen. Zwischen den weißen Kuppeln Calatravas und den alten Seidenhändlern liegt nicht nur geografischer Raum, sondern auch eine Brücke zwischen gestern und morgen.

Bronzestatue einer Frau, die Wasser aus einem Krug in einen Brunnen gießt, mit historischen Gebäuden und blau gekachelten Kuppeln im Hintergrund.

Und genau das macht Valencia so besonders. Es ist keine Stadt der Entscheidungen, sondern eine Stadt der Möglichkeiten. Hier kann man in die Zukunft schauen und gleichzeitig Geschichte atmen. Man kann Kunst und Wissenschaft erleben und dann in der Natur verschwinden. Man kann spektakulär sein oder still.

Valencia lässt einem die Wahl – und bleibt dabei immer es selbst.

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